Waltraud's Geschichte
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Kritische Anmerkungen zu Waltraud's Geschichte
Wir als Selbsthilfeverband Psychiatrie-Erfahrener möchten einige kritische Anmerkungen zu Waltraud's ' Geschichte und dem Umgang mit ihrer Situation machen:
Vom plötzlichen Ausbruch der Erkrankung bis Endstation Bahngleise
➡️ Unser Landesnetzwerk erhielt den folgenden Erlebnisbericht, den wir gerne mit Ihnen teilen möchten. Waltraud, eine betroffene Angehörige, schildert ihre Erfahrungen mit ihrer an Schizophrenie erkrankten Tochter, die Reaktionen der Gesellschaft und der professionellen Unterstützer, von denen sie sich oft alleingelassen fühlte, und wie sie versucht, mit der Situation zurechtzukommen.
➡️ Hallo, ich bin Waltraud und ich möchte erzählen, wie es war, als sich meine Tochter Anna veränderte...
Als ich zurückblicke, fällt es mir schwer, die glücklichen Jahre unserer Familie vor dem Ausbruch von Annas Krankheit zu erkennen. Meine Tochter Anna war immer ein strahlendes Kind – fröhlich, intelligent und voller Träume. Sie wollte Anwältin werden und hatte bereits mit ihrem Jurastudium begonnen. Unsere Familie bestand aus meinem Mann, unserem Sohn Max und unserer jüngeren Tochter Hendrike. Wir waren eine ganz normale Familie, die Herausforderungen und Freuden des Alltags gemeinsam meisterte.
Doch eines Tages veränderte sich alles. Anna begann, sich seltsam zu verhalten. Zuerst dachten wir, es läge am Stress des Studiums, doch bald wurde klar, dass etwas viel Ernsteres im Gange war. Nach vielen Untersuchungen und Krankenhausaufenthalten bekamen wir die schockierende Diagnose: Schizophrenie. Unsere Welt brach zusammen. Wie konnte das passieren? Warum gerade unsere Tochter?
Anna geriet immer mehr außer Kontrolle. Sie führte plötzlich ein ausschweifendes Leben, verliebte sich in zahlreiche Männer und wurde zweimal schwanger. Der Schmerz und die Verzweiflung, die wir als Familie durchmachten, als das Jugendamt ihre Kinder wegnahm, sind kaum in Worte zu fassen. Anna hat das nie verwunden und brach noch weiter zusammen und auch meine Kraft schwand. Ich fühlte mich schuldig, als hätte ich versagt. Warum konnte ich meiner Tochter nicht helfen? Warum konnte ich sie nicht retten?
Mein Mann und unsere anderen Kinder, Max und Hendrike, waren ebenfalls überwältigt von der Situation. Wir hatten gehofft, gemeinsam stark zu bleiben, doch die Last war zu groß. Unsere Familie begann zu zerbrechen. Max zog sich zurück, Hendrike war oft traurig und ich... ich war am Ende meiner Kräfte. Die Trennung von dem Mann meiner Kinder war unausweichlich.
Dann kam der Tag, an dem Anna ihre Wohnung verlor und obdachlos wurde. Niemand fühlte sich so richtig verantwortlich. Weder der Betreuer, noch der Sozialpsychiatrische Dienst. Auch Anrufe in der Psychiatrie-Koordination konnten nicht helfen. Die Kliniken in denen sie zwangseingewiesen wurden entliessen sie wieder nach kurzer Zeit mit einer Vielzahl neuer Medikamente auf die Strasse. Im Betreuten Wohnen war kein Platz frei und sie wollte da auch nicht wieder hin. Werkstatt und tagesstrukturiende Massnahmen lehnte sie als abwertende Maßnahmen ab. Wir wussten dann nicht mehr, wo sie sich aufhielt, und die Ungewissheit fraß uns auf. Sechs Monate lang lebten wir in ständiger Angst und Hoffnung, bis die Polizei mich eines Tages kontaktierte.
Sie hatten Anna in der Nähe von Bahngleisen gefunden, halberfroren in einem Schlafsack.
Mein Herz brach ein weiteres Mal, als ich sie sah – abgemagert, verwahrlost, ein Schatten ihrer selbst. Ich nahm sie wieder bei mir auf, obwohl sie jede Hilfe von außen und mir ablehnte.
Das Drama nahm so seinen Lauf. Streit und lautstarke Auseinandersetzungen waren an der Tagesordnung. Meine eigenen Versuche, eine starke männliche Schulter an meiner Seite zu finden, scheiterten immer wieder. Beziehungen gingen in die Brüche, weil ich einfach nicht mehr die Kraft hatte, für andere da zu sein und meine Tochter gegen diese Beziehungen war.
Heute lebe ich in einem ständigen Ausnahmezustand. Jeder Tag ist ein neuer Kampf, ein Balanceakt zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Ich liebe meine Tochter über alles, aber die Krankheit hat uns alle verändert. Wir versuchen, das Beste daraus zu machen, doch oft fühle ich mich allein und hilflos. Von den Behörden erwarte ich nichts mehr…
Dieser Bericht ist nicht nur die Geschichte meiner Tochter Anna, sondern auch die meiner Familie und meiner eigenen inneren Kämpfe. Meine Enkelkinder sind gesund und ich darf sie regelmässig besuchen, wenn meine Tochter Anna nicht anwesend ist. Es ist eine Geschichte von Liebe, Verlust und dem unermüdlichen Kampf, den diejenigen durchmachen, die ihre Lieben an die Schizophrenie verlieren.
Mit tiefstem Mitgefühl für alle Betroffenen
Waltraud, 62 Jahre
Dieser Bericht spiegelt häufige Erfahrungen von Menschen wider, die in Rheinland-Pfalz psychiatrische Hilfe suchen. Namen und Orte wurden anonymisiert. Der Bericht wurde zur besseren Lesbarkeit und Verständlichkeit von der Redaktion überarbeitet und basiert auf einer wahren Begebenheit.
Kritische Gedanken aus Sicht von Betroffenen mit psychischen Erkrankungen Problemlagen aus dem Bericht von Waltraud:
- Mangelnde Langzeitbetreuung und Unterstützung Viele Betroffene fühlen sich nach der Diagnose allein gelassen. Es gibt oft eine Lücke zwischen der Akutversorgung in Kliniken und der langfristigen Unterstützung im Alltag. Die Entlassung aus der Klinik erfolgt häufig zu früh, ohne ausreichende Nachsorge und Integration in unterstützende Programme.
- Stigmatisierung und mangelnde Sensibilität Psychische Erkrankungen sind immer noch stark stigmatisiert. Betroffene erleben Vorurteile und Diskriminierung, auch von Fachkräften im Gesundheitswesen. Dies führt zu einem Verlust des Vertrauens in das System und erschwert den Zugang zu notwendiger Hilfe.
- Fehlende Einbeziehung in Entscheidungsprozesse Betroffene haben oft das Gefühl, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Ihre Meinungen und Wünsche werden nicht ausreichend berücksichtigt, sei es bei der Medikation, der Wahl der Therapie oder der Gestaltung ihres täglichen Lebens.
- Unzureichende finanzielle Unterstützung Die finanziellen Belastungen durch eine psychische Erkrankung sind hoch. Viele Betroffene können nicht arbeiten und erhalten nur geringe finanzielle Unterstützung, was zu einer zusätzlichen Belastung und oft auch zur Verschlechterung der psychischen Gesundheit führt.
Lösungen für eine umfassende und entlastende Versorgung von Betroffenen und Angehörigen
- Kontinuierliche und individuelle Betreuung
- Langfristige Nachsorge: Schaffung und Förderung von flexiblen, individuellen Nachsorgeprogrammen, um eine nahtlose Betreuung nach der Entlassung aus Kliniken zu gewährleisten.
- Koordination der Betreuungsdienste: Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Betreuungsdiensten wie dem Sozialpsychiatrischen Dienst und Betreutem Wohnen.
- Aufklärung und Entstigmatisierung
- Öffentlichkeitskampagnen: Initiierung umfassender Aufklärungskampagnen, um Vorurteile und Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen abzubauen.
- Schulung und Sensibilisierung: Regelmäßige Fortbildungen für medizinisches und soziales Fachpersonal im Umgang mit psychisch erkrankten Menschen und deren Angehörigen.
- Einbeziehung der Betroffenen in Entscheidungsprozesse
- Patientenbeteiligung: Förderung der aktiven Einbindung der Betroffenen und ihrer Familien in Entscheidungsprozesse bezüglich Therapie und Betreuung.
- Feedbackmechanismen: Einrichtung regelmäßiger Feedbackgespräche und Patientenvertretungen in psychiatrischen Einrichtungen.
- Verbesserung der finanziellen Unterstützung
- Erhöhung der Sozialleistungen: Anpassung der finanziellen Unterstützung für Betroffene und ihre Familien, um die zusätzlichen Belastungen durch die Krankheit abzufangen.
- Förderprogramme: Spezielle Programme zur beruflichen Wiedereingliederung und Unterstützung bei der Alltagsbewältigung.
- Förderung von Selbsthilfegruppen und Peer-Unterstützung
- Selbsthilfegruppen: Ausbau und finanzielle Unterstützung von Selbsthilfegruppen, um den Austausch und die gegenseitige Unterstützung zu fördern.
- Peer-Beratung: Ausbildung von Peer-Beratern, die durch eigene Erfahrungen Betroffene auf Augenhöhe unterstützen können.
- Erweiterung des therapeutischen Angebots
- Vielfältige Therapieformen: Integration und Förderung alternativer Therapieformen wie Kunst-, Musik- und Bewegungstherapie neben der klassischen Psychotherapie und medikamentösen Behandlung.
- Notfallhilfe und Krisenintervention
- Kriseninterventionsteams: Einrichtung und bessere Verfügbarkeit von Kriseninterventionsteams, die schnell und effektiv in akuten Notfällen helfen können.
- Niedrigschwellige Angebote: Schaffung von leicht zugänglichen Angeboten, die ohne lange Wartezeiten oder komplexe Bürokratie erreichbar sind.
- Verbesserung der Wohn- und Lebensbedingungen
- Betreutes Wohnen: Mehr Plätze und flexible Lösungen im Betreuten Wohnen, die den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen angepasst sind.
- Sicherer Wohnraum: Bereitstellung von sicherem und stabilem Wohnraum, um Obdachlosigkeit und die damit verbundenen Gesundheitsrisiken zu verhindern.
Durch die Umsetzung dieser Maßnahmen kann eine umfassende und entlastende Versorgung für Betroffene und ihre Angehörigen gewährleistet werden, die zu einer verbesserten Lebensqualität, langfristigen Stabilisierung und Genesung beiträgt. Angehörige werden dabei unterstützt und entlastet, sodass sie ihre wichtige Rolle bestmöglich ausfüllen können.
Um Betroffenen und ihren Angehörigen eine umfassende und entlastende Versorgung zu bieten, sind kontinuierliche und individuelle Betreuung, Aufklärung und Entstigmatisierung, Einbeziehung in Entscheidungsprozesse, finanzielle Unterstützung, Förderung von Selbsthilfegruppen und Peer-Unterstützung, erweiterte therapeutische Angebote, effektive Notfallhilfe und Krisenintervention sowie verbesserte Wohn- und Lebensbedingungen dringend notwendig.
Diese Maßnahmen erhöhen die Lebensqualität, fördern die langfristige Stabilisierung und Genesung und entlasten die Angehörigen erheblich.